Energiebranche im Umbruch

Generalversammlung, 19. Mai 2016, Baden Referat Kurt Rohrbach, Präsident VSE
19.05.2016

Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrte Damen und Herren

Ich freue mich, Sie als Vertreterinnen und Vertreter unserer Mitgliedunternehmen, als Medienschaffende, als Gäste aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft oder Organisierende an der VSE-Generalversammlung willkommen zu heissen. Ich danke Ihnen für Ihr Interesse und Ihre Teilnahme.

Der VSE deckt als Branchendachverband alle Themen der Stromversorgung ab – entlang der ganzen Wertschöpfungskette. Früher konnte man hier anfügen «von der Produktion über die Verteilung bis hin zur heimischen Steckdose». Das klang zwar vielfältig, doch auch noch irgendwie überschaubar. Heute müsste man Sätze hinzufügen wie etwa «von der eigenen Fotovoltaik-Anlage in die Wandbatterie. Zudem einen Teil wieder zurück ins Verteilnetz,...» etc. etc. Sie sehen, meine Damen und Herren: Der Themenfächer für den VSE ist nicht nur breiter geworden – er schillert auch in allen möglichen Farben. Zudem heisst es zwar Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen, doch der Strommarkt kennt solche Abgrenzungen immer weniger. Als Dachverband müssen wir heute viel ausgeprägter als in der Vergangenheit die globalen Entwicklungen im Auge behalten. Wir müssen uns regelmässig – und dies mit erhöhter Kadenz – fragen, was sie für das Gesamtenergiesystem der Schweiz bedeuten, und wie sie die Zukunft unserer Energielandschaft prägen.

Dieser Blick von oben ist das Eine. Zeitgleich operiert der VSE im Herzen der Schweizer Stromlandschaft, und muss kurzfristig sprach- und handlungsfähig sein. Etwa, wenn wir technische Empfehlungen abgeben, die sehr lokalen Charakter haben. Oder natürlich, wenn wir die Fachkräfte von morgen ausbilden –  im Hauptsitz in Aarau – und zunehmend an anderen Schweizer Standorten. Und das Produkt, das bei uns im Zentrum steht? Strom ist Strom, könnte man auf den ersten Blick meinen. Doch die Marktentwicklung hat eindrücklich gezeigt, dass es eine grosse Rolle spielt, ob ein Unternehmen die Endkunden beliefern kann – oder den Strom im Grosshandel absetzen muss. Zu den Mitgliedern des VSE gehören Unternehmen mit den unterschiedlichsten Produktportfolios. Und zunehmend stehen Dienstleistungen im Zentrum der Geschäftsmodelle, auch wenn daraus heute noch nicht viel Ertrag resultiert. Als Dachverband müssen wir solche Entwicklungen aufmerksam mitverfolgen. Energie verstehen wir als Gesamtsystem, möglichst ohne ideologische Färbung.

Doch wie steht es um dieses System? Fangen wir bei den Preisen an. Die weltweite Lage in Bezug auf die Primärenergiepreise hat sich – gelinde gesagt – dramatisiert. Besonders eindrücklich illustriert das der Preiszerfall am Ölmarkt. Aktuell kostet ein Barrel noch etwa 45 Dollar, letzten Januar waren es kurzzeitig gar unter 30 Dollar. Die gleiche Ware kostete im Mai 2014 noch ganze 110 Dollar pro Fass. Weil die Primärenergiepreise so massiv zurückgegangen sind, fielen auch die Grosshandelspreise für Strom. Und nachfrageseitig ist kein Silberstreifen am Horizont sichtbar. Hauptsächlich dürftiges Konjunkturwachstum und in etwas geringerem Ausmass auch Energieeffizienz-Massnahmen führen dazu, dass der Verbrauch kaum wächst. Gleichzeitig leistet sich halb Europa den Luxus, weiterhin zusätzliche Erzeugungskapazitäten ungebremst zu fördern. Kurz und nüchtern: Ein Wiederanstieg des Strompreises – der einheimische Stromproduzenten aufatmen liesse – ist schlicht unwahrscheinlich.

Doch Energie hat in den letzten Monaten zum Glück nicht nur durch ihren Preiszerfall für Schlagzeilen gesorgt. Sie stand vielmehr auf der politischen Bühne im internationalen Rampenlicht. Ich spreche natürlich von der historischen UN-Klimakonferenz in Paris, im ausgehenden Jahr 2015. Als «schönste und friedlichste aller französischen Revolutionen» bezeichnete sie der französische Präsident François Hollande. «Heute feiern wir, morgen müssen wir uns an die Arbeit machen», fasste EU-Umweltkommissar Miguel Arias Cañete die Stimmung in Paris etwas nüchterner und bodennäher zusammen. Tatsächlich vereinbarten Industrie- und Schwellenländer erstmals in der Geschichte, gemeinsam gegen den Klimawandel vorgehen zu wollen. Fast 190 Staaten haben ihre Klimaschutzpläne schon vorgelegt. Das sehe ich durchaus als Lichtblick der internationalen Kooperation. Das Ziel von Paris 2015 ist hoch gesteckt: Die Erderwärmung auf weniger als zwei Grad Celsius begrenzen, womöglich gar auf 1,5 Grad. Dazu sollen die globalen Netto-Treibhausgasemissionen in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts auf Null reduziert werden.

Die Frage lautet nun: «Wie rasch wirkt sich die Umsetzung der in Paris beschlossenen Pläne positiv auf die Erneuerbaren Energien aus?». Ich denke dabei, (ganz uneigennützig) aus Schweizer Perspektive, vor allem an die gebeutelte Wasserkraft. Sie bietet flexiblen und sauberen, CO2-freien Strom. Langfristig gesehen müsste sie deshalb einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil geniessen, in einer Welt, die sich die CO2-Reduktion auf die Fahnen geschrieben hat. Ein runder Kreis, wenn man es so betrachtet. Doch auf «Kreis» reimt sich einmal mehr «Preis»: Zwar haben CO2-Emissionen seit der Einführung des Emission Trading System (ETS) 2005 tatsächlich einen Marktpreis. Doch dieser ist seit langem so tief, dass er als Klimaschutzinstrument völlig wirkungslos ist. So erlebten Kohlekraftwerke eine Renaissance in Europa, auch in Deutschland, dem Land der Energiewende, das jährlich für die Förderung der erneuerbaren Energien um die 20 Milliarden Euro ausgibt. Dem Klima hat dieses Geld unter dem Strich wenig genützt.

Für die europäische Klimapolitik ist diese Entwicklung ein Debakel. «Um die billige Kohle aus dem Markt zu drängen, braucht es einen CO2-Preis von etwa 40 Euro», sagte Christof Rühl, Chefökonom beim Energieunternehmen BP. Aktuell liegt dieser Preis bei gut 6 Euro. Sie sehen selber, meine Damen und Herren: Bis das Treibhausgas CO2 einen «zweckmässigen» Preis haben wird, fliesst noch viel Wasser die Limmat hinunter.

Zurück zum Wasser: Wo setzt man mittelfristig an, um die prekäre Situation unserer Wasserkraft zu verbessern? Vorgemacht hat es der Kanton Bern: Die Regierung will rückwirkend auf die vom Bund ermöglichte Erhöhung der Wasserzinsen verzichten. Im wirtschaftlichen Notfall sollen Grosskraftwerke noch zusätzlich entlastet werden. Der VSE setzt bezüglich Wasserzinsen ebenfalls auf ein aktives Vorgehen: Als Dachverband der Schweizerischen Elektrizitätsunternehmen suchen wir das Gespräch mit den Kantonen. Spruchreif ist, dass es ein gemeinsames Verständnis für ein künftiges Wasserzinsregime nach 2019 braucht. Es gilt dabei, die schwierige Situation vieler Wasserkraftwerke zu berücksichtigen. Es kann nicht sein, dass systemrelevante Wasserkraftwerke ihren Strom am Markt zu einem Preis absetzen müssen, der unter den Gestehungskosten liegt. Gerade im Hinblick auf die Energiestrategie 2050 muss unsere wichtigste Energieressource Schritt für Schritt aus dieser desolaten Lage herausfinden.

Wo steht die Energiestrategie 2050? Der VSE ist erfreut, dass die Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie des Nationalrats (UREK-N) in entscheidenden Punkten dem Ständerat gefolgt ist – und im Bereich Grosswasserkraft die Massnahmen zur Unterstützung unbürokratisch optimiert. Damit setzt sie ein wichtiges politisches Zeichen. Sie anerkennt nämlich die strategische Bedeutung der Wasserkraft für die Energiestrategie 2050. Überhaupt sehe ich die erste Etappe der ES2050 als geglückt. Es ist gelungen, unsere Grundhaltung, also «Erneuerbare Energien an den Markt führen», in Bern mit Nachdruck darzulegen. Wir begrüssen in dem Zusammenhang die Absicht des Bundesrats, das heutige Fördersystem ab dem Jahr 2021 abzulösen.

Apropos Ablösung und Erneuerbare: Es gibt auch Unkenrufe, welche die Wasserkraft als Auslaufmodell sehen. Lassen Sie mich dazu kurz Stellung nehmen. Gut 58% der schweizerischen Stromproduktion verdanken wir heute dieser heimischen Ressource – und bezeichnen sie deshalb als «Rückgrat unserer Stromversorgung». «Die Zeiten ändern sich», werfen die Kritiker derweil ein – und verweisen auf den massiven Wachstumstrend bei den Neuen Erneuerbaren, wie Photovoltaik. Dazu gibt es in der Tat beeindruckende Zahlen, etwa aus der aktuellsten UBS-Studie «Neue Energie für die Schweiz»: Demzufolge dürfte die Solarenergie in der Schweiz unter allen Energieträgern am stärksten wachsen. Der erwartete weitere Preisverfall bei Solarmodulen macht die Technologie immer wettbewerbsfähiger, sodass sich ihr Anteil bis zum Jahr 2050 noch erhöhen wird. Weitere erneuerbare Energien wie Windkraft, Biomasse und Geothermie können den Stromerzeugungsmix ergänzen. Neue Gaskraftwerke dürften zudem die Versorgungssicherheit erhöhen.

Wird die Wasserkraft deswegen an den Rand gedrängt und an Bedeutung verlieren? Kaum, gemäss derselben Studie. Ich zitiere: «Im Jahr 2050 dürfte Strom in der Schweiz zu rund 90% aus erneuerbaren Energien erzeugt werden. Eine Schlüsselrolle kommt dabei der Wasserkraft zu, deren Ausbau vor rund 100 Jahren begonnen hat. Künftig könnte ihr Anteil auf rund zwei Drittel der Stromproduktion ansteigen.» Die Wasserkraft wird also auch in Zukunft  von eminenter Wichtigkeit für unser Energiesystem sein. Oder mit den Worten aus der UBS-Studie: «Grundlage des Schweizer Energiemix wird die Wasserkraft bleiben». Da bin ich mit der UBS einig.

Sprechen wir von Energiemix, beleuchten wir meist nur die Produktionsseite. Konsumentenseitig ist oft noch wenig Bewusstsein da, woher der Strom denn eigentlich kommt. Oder ganz simpel ausgedrückt: Hauptsache, er kommt unterbrechungsfrei aus der Steckdose. Mit der Energieeffizienz läuft es ähnlich. Zwar brüsten sich Geräte mit Buchstaben wie A-Plus und A-Doppelplus (gar Tripel-Plus). Doch wie steht es um die volkswirtschaftlichen Anreize, bewusst Energie zu sparen? Die Zahlen sprechen eine klare Sprache Knapp 50% des schweizerischen Primärenergieverbrauchs wird heute für Gebäude aufgewendet: 30% für Heizung, Klimatisierung und Warmwasser. Energieeffizienzmassnahmen würden den Verbrauch von Primärenergie also drastisch senken. Nur: Wieso Energie sparen, wenn sie so preiswert ist und scheinbar im Überfluss verfügbar? Volkswirtschaftlich gesehen besteht kaum ein Anreiz dazu. Gebäudemassnahmen haben hohe Amortisationszeiten – und in konjunkturell flauen Phasen sind solche Ausbauten reiner Luxus.

Die Dramatik dieses Preiseffekts und seine ganzen Auswirkungen sind meines Erachtens noch kaum erfasst: Denn immerhin verursacht der Gebäudesektor 40% der Schweizer CO2-Emissionen. Nur über mittelfristig höhere Preise für Primärenergie und Strom dürfte hier ein dringend nötiger Ruck durch das Land gehen. Die Studie der UBS sieht immerhin im Bereich des Verkehrs und der Beheizung einen ökologisch positiven Trend: «Eine Elektrifizierung des Transportwesens sowie der allmähliche Wegfall von Ölheizungen dürften den Erdölkonsum markant reduzieren und den Gesamtenergiemix verändern». Je nach Durchsetzung alternativer Fahrzeugantriebe sowie dem erwarteten Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum werde die Stromnachfrage dabei moderat zulegen (trotz kontinuierlicher Effizienzsteigerungen). Dabei dürften die Energie- und Strompreise für Endverbraucher steigen. Sie sehen, nun war im Zusammenhang mit Energieeffizienz auch von Autos die Rede. Treibstoffe gehören eben mit in die Diskussion, wenn man energiepolitische Konzepte entwirft.

«Prognosen sind schwierig, besonders, wenn sie die Zukunft betreffen». Dieses Bonmot wird wahlweise Mark Twain, Niels Bohr oder auch Winston Churchill zugeschrieben. Der VSE setzt darum auch nicht mehr auf quantitative Prognosen, wenn es darum geht, die mögliche Energiewelt von morgen zu umreissen. Schon 2012 musste die Geschäftsstelle mit drei Szenarien («Wege in die Stromzukunft») arbeiten, da die Unsicherheiten betreffend der Rahmenbedingungen erheblich zugenommen hatten – besonders wegen der Energiestrategie 2050.

Die Situation heute ist noch komplexer. Die Grenzen zwischen Produzenten und Konsumenten verschwimmen immer stärker, Speichertechnologien wie Batterien können bei weiteren technischen Fortschritten entscheidend die Spielregeln ändern.

Deshalb hat der VSE im Sommer 2015 ein Projekt mit dem Arbeitstitel «Energiewelten – Marktmodelle» gestartet. Am Teilprojekt Energiewelten waren 2015 Mitarbeiter aus verschiedenen Mitgliedsunternehmen beteiligt: Vom grossen Produzenten/Händler über Stadtwerke bis zum kommunalen Netzbetreiber – und vom Techniker über den Ökonomen bis zum Juristen. In «Energiewelten» erarbeitet der Verband energiewirtschaftliche Zukunftsszenarien. Die Treiber sind dabei politischer, energiewirtschaftlicher oder technologischer Natur. Im Teilprojekt «Marktmodelle» werden die dazugehörenden Marktmodelle, d.h. die entsprechenden Ordnungsrahmen untersucht.

Wie werden Nachfrage, internationale Vernetzung und smarte Technik die Schweizer Energiebranche von morgen beeinflussen? Wie wirken sich mehr oder weniger dezentrale Strukturen aus – und wie die staatlichen Markteingriffe? Entlang dieser Fragen erarbeitet der VSE mit den Kommissionsmitgliedern mögliche Energiewelten – und damit eine greifbare Vision für die Zukunft.

Dieser Ansatz ist dynamisch, wirtschaftsorientiert und direkt am Puls der Unternehmen, welche die Energiestrategie 2050 des Bundes umsetzen. Diverse Business-Chancen für die Elektrizitätsversorgungsunternehmen können dank «Energiewelten» des VSE sichtbar werden. Dafür sorgt die Zusammenarbeit mit der HSG. Daraus resultieren ein Geschäftsmodellatlas und ein für alle Mitglieder einfach umsetzbares, standardisiertes Vorgehen für Geschäftsmodellinnovationen in der Energiewirtschaft. Zudem können interessierte Mitglieder in Zusammenarbeit mit der HSG konkrete, massgeschneiderte Geschäftsmodelle entwickeln. So setzt der VSE einen Kontrapunkt zu regulierenden Einzelmassnahmen, welche oft einen überstürzten und programmatischen Eindruck hinterlassen. Ich bin überzeugt, dass das der richtige Weg ist, um dem derzeit schwierigen Umfeld zu begegnen.

Ihnen, geschätzte Mitglieder, danke ich, dass Sie uns auch in diesen harten Zeiten die Treue halten – und sich in unserem Verband aktiv beteiligen. Das Tagesgeschäft der VSE-Mitglieder wird weiterhin mit sehr unterschiedlichen Herausforderungen für jeden Einzelnen unter Ihnen aufwarten. Und diese Herausforderungen werden die politische Diskussion im VSE prägen. Entsprechend wichtig ist es, in unserem Dachverband auch die Bereitschaft zu Kompromissen zu zeigen. Umso mehr schätzen wir deshalb Ihr Engagement – sei es im Vorstand, in Kommissionen oder in spezifischen Arbeitsgruppen. Mein Dank gilt  zudem den Geschäftsstellen in Lausanne und Aarau sowie dem Büro in Bern – am Puls des politischen Geschehens. Das Team unter der Leitung von Direktor Michael Frank hat auch im letzten Jahr die Anliegen der Strombranche vorausschauend und professionell betreut. Trotz wachsender Aufgaben und zunehmender Komplexität der Geschäfte.

Ihnen allen, geschätzte Damen und Herren: Danke für Ihre Aufmerksamkeit!