Netzstabilität: «10 Prozent des europäischen Stromtransits fliessen bei uns durch»

Das Schweizer Stromnetz ist die Lebensader unserer Versorgungssicherheit. Für Europa fungiert es als riesige Schaltzentrale. Doch wie wird es für die Energiezukunft fit gemacht? Ein Interview mit Marc Emery, Netzplanungsexperte bei Swissgrid.
10.10.2019

Herr Emery, Sie bringen 25 Jahre Erfahrung mit, was unser Stromnetz angeht. Wie hat sich dieses tausende von Kilometern umfassende System in der Zeit verändert?

Verändert hat sich besonders der Betrieb – er war früher sehr viel geordneter und vorhersehbarer. Die Wasserkraftproduktion der Pumpspeicher fiel tagsüber an, hochgepumpt wurde nur in der Nacht. Es herrschten klare Preisdifferenzen, ökonomisch wie politisch gab es wenig Überraschungen. Die Union für die Koordinierung des Transports von Elektrizität (UCTE) war für die Koordinierung des Betriebes und die Erweiterung des europäischen Netzverbundes zuständig; die Schweiz spielte eine wichtige Rolle dabei; das zeigte sich unter anderem daran, dass die jährlichen Wintersitzungen auf der Rigi stattfanden. Seit dem 1. Juli 2009 obliegt diese Aufgabe der ENTSO-E, die ihren Sitz in Brüssel hat – und die nicht nur technisch, sondern auch politisch ausgerichtet ist.

41 grenzüberschreitende Leitungen verbinden uns mit dem europäischen Stromnetz. Die Diskussionen rund um das Rahmenabkommen mit der EU lassen hingegen oft vermuten, die Schweiz sei eine Insel...

Ja, was die technische Grundlage der europäischen Wirtschaft – den Strom – angeht, sind wir tatsächlich alles andere als eine Insel, eher so etwas wie eine riesige Schaltzentrale. Der Stromtransit in Europa beträgt etwa 230 Terawattstunden pro Jahr, das entspricht der jährlichen Energie von etwa 24 Kernkraftwerken wie desjenigen in Leibstadt. Und 10 Prozent dieses Transits fliessen durch die Schweiz. Dabei hat macht die Schweiz nur 0.4 Prozent der Gesamtfläche Europas aus...

Was sind denn die grössten Herausforderungen für unser Netz, wenn man von der Energiezukunft spricht?

Die Abschaltung grosser thermischer Kraftwerke (z.B. der Ausstieg aus der Kernkraft), die neuen Erneuerbaren und der Bau weiterer Pumpspeicherkraftwerke in den Alpen. Wenn etwa in Unterwerken des Übertragungsnetzes die Leistung eines ausrangierten Kernkraftwerks wegfällt, hat das grossen Einfluss auf die konkreten Lastflüsse. Erneuerbare wie Photovoltaik wirken in einer ersten Phase eher entlastend auf das Übertragungsnetz, da ja aus Sicht Übertragungsnetz weniger Leistung pro Einspeiseort anfällt. Doch das Verteilnetz muss dafür bereit sein.

Und wie planen Sie unser Übertragungsnetz? 

In der Netzplanung werden das ganze kontinentaleuropäische Verbundnetz und die für das Übertragungsnetz relevanten Schweizer Verteilnetze berücksichtigt. An dieser Stelle muss betont werden, dass Swissgrid als ENTSO-E-Vollmitglied am TYNDP-Prozess (Ten Year Network Development Plan / zweijährige europaweite Netzplanung) teilnimmt und sich mit den ausländischen Übertragungsnetzbetreibern koordiniert.

Zunächst werden Szenarien erstellt. In den Marktsimulationen lässt sich der Markt basierend auf diesen Szenarien simulieren. In den Netzsimulationen können wir dann überprüfen, ob das System in der Lage wäre, die jeweiligen Szenarien zu bewältigen. Falls dies nicht der Fall ist, wird das Netz für den Planungshorizont ertüchtigt, was in Netzausbauprojekten zusammengefasst wird.

Mit der Inkraftsetzung der «Strategie Stromnetze» wird der Szenariorahmen vom BFE koordiniert und erstellt – und danach vom Bundesrat verabschiedet. Der Szenariorahmen wird zum ersten Mal 2021 erwartet, dann wird Swissgrid das Strategische Netz planen. Diese Planung wird alle 4 Jahre wiederholt.

Das letzte veröffentliche Strategische Netz ist das 2015 veröffentlichte «Strategische Netz 2025». Wir hatten zwei Kern- und zwei Randszenarien erarbeitet, die auf der Energiestrategie des Bundes basierten – mit jeweils anderen Annahmen im Hinblick auf den Umbau der Produktion. Das «On Track»-Szenario ging davon aus, dass die Ziele der ES2050 komplett erreicht würden. Im Szenario «Sun», welches mit der Umweltallianz definiert wurde, wurde die Photovoltaik sehr stark ausgebaut. Beim Szenario «Slow Progress» wurde die ES2050 nur teilweise umgesetzt. Das Szenario «Stagnancy» umfasste gar eine Rezession sowie sehr zögerlichen Ausbau der neuen Erneuerbaren.

Die «dezentrale Zukunft» ist in aller Munde. Benötigen wir bald gar keine neuen Übertragungsnetze mehr?

Trotz des Ausbaus der neuen Erneuerbaren nehmen die grenzüberschreitenden Flüsse im Übertragungsnetz nicht ab, da grossräumige – auch die neuen Erneuerbaren involvierende – Austausche weiterhin stattfinden.

Auch wir kennen die Zukunft nicht – und es ist nicht die Kernaufgabe des Übertragungsnetzbetreibers, sich bezüglich der Erzeugungstechnologien zu positionieren. Speicher wie Batterien könnten z.B. eine Teilalternative zum Netzausbau sein, weil sie die Lastspitzen brechen.

Mit den oben erwähnten Prinzipien können alle neuen Entwicklungen, u.a. neue Erzeugungstechnologien, in die Netzplanung einbezogen werden.